14. November 2024
Verfassungswidrigkeit von AdV-Zinsen: BFH ruft Bundesverfassungsgericht an
Der Bundesfinanzhof (BFH) hat in einem Beschluss vom 8. Mai 2024 (VIII R 9/23) das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) angerufen, um die Verfassungsmäßigkeit der Zinsen bei Aussetzung der Vollziehung (AdV-Zinsen) überprüfen zu lassen.
Diese Entscheidung könnte weitreichende Folgen für Steuerpflichtige und die Finanzverwaltung haben.
Hintergrund: Zinssatzspreizung seit 2019
Seit dem 1. Januar 2019 besteht eine Zinssatzspreizung im deutschen Steuerrecht. Während der Zinssatz für Nachzahlungs- und Erstattungszinsen nach § 233a AO auf 0,15% pro Monat (1,8% pro Jahr) gesenkt wurde, blieb der Zinssatz für AdV-Zinsen unverändert bei 0,5% pro Monat (6% pro Jahr)
Diese Ungleichbehandlung ist nach Ansicht des BFH verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen.
Kernpunkte der BFH-Entscheidung
Der Bundesfinanzhof (BFH) argumentiert, dass die Höhe der AdV-Zinsen seit 2019 gegen den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes (Art. 3 GG) verstößt. Folgende Aspekte stehen im Mittelpunkt:
- Unverhältnismäßig hoher Zinssatz: Der Zinssatz von 6% pro Jahr führt in der anhaltenden Niedrigzinsphase zu mehr als nur einer Abschöpfung des Liquiditätsvorteils.
- Ungleichbehandlung: Steuerpflichtige mit ausgesetzten Steuerzahlungen werden im Vergleich zu jenen mit nachträglich festgesetzten Steuern ungleich behandelt.
- Fehlende Rechtfertigung: Die Begründung, dass Steuerpflichtige die Entstehung von AdV-Zinsen selbst beeinflussen können, reicht nach Ansicht des BFH nicht aus, um die Ungleichbehandlung zu rechtfertigen.
Entstehung von AdV-Zinsen
Wenn Steuerpflichtige vermuten, dass ihr Steuerbescheid fehlerhaft ist und Einspruch einlegen, kann der Bescheid zwar inhaltlich komplett geändert werden. Trotzdem müssen die festgesetzten Steuerbeträge bis zu einer möglichen Änderung weiterhin bezahlt werden. Das bedeutet, dass man die Steuern am Fälligkeitstag zahlen muss, auch wenn ein Einspruch läuft – es sei denn, man hat eine Aussetzung der Vollziehung (AdV) nach § 361 der Abgabenordnung beantragt.
Wenn man im Einspruchsverfahren eine AdV beantragt, bedeutet das, dass man die Steuerzahlungen erst einmal nicht am eigentlichen Fälligkeitstag zahlen muss. Stattdessen wird die Zahlung erst dann fällig, wenn ein neuer Steuerbescheid vorliegt. Die Aussetzung wird allerdings nur gewährt, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des ursprünglichen Steuerbescheides bestehen.
Falls der Steuerbescheid im Einspruchsverfahren nicht geändert wird und sich herausstellt, dass die ursprüngliche Steuerberechnung korrekt war, hätte die Aussetzung nicht bewilligt werden dürfen. In diesem Fall müssen auf die gestundeten Steuerbeträge Zinsen gezahlt werden, und zwar für den Zeitraum zwischen dem ursprünglichen Fälligkeitstag und dem tatsächlichen Zahlungsdatum. Wenn sich das Einspruchsverfahren lange hinzieht, können diese Zinsen erheblich ausfallen.
Handlungsempfehlungen für Steuerpflichtige
Angesichts der aktuellen Rechtslage sollten Steuerpflichtige folgende Schritte in Erwägung ziehen:
- Einspruch einlegen: Gegen AdV-Zinsbescheide für Verzinsungszeiträume ab 2019 sollte Einspruch eingelegt werden.
- Ruhen des Verfahrens beantragen: Es empfiehlt sich, das Ruhen des Verfahrens wegen des beim BVerfG anhängigen Verfahrens zu beantragen (§ 363 Abs. 2 Satz 2 AO).
- Besprechen Sie die Vorteile und Risiken eine AdV vor Beantragung mit Ihrer oder Ihrem Steuerberater:in.
Um künftige Diskussionen über die Zinssatzhöhe zu vermeiden, könnte der Gesetzgeber eine Koppelung an den Basiszinssatz nach § 247 BGB in Erwägung ziehen. Dies würde eine flexiblere Anpassung an das aktuelle Zinsniveau ermöglichen und potenzielle Musterverfahren verhindern.
Unsere Einschätzung
Als Steuerberater:innen sehen wir in der Vorlage des BFH an das BVerfG eine wichtige Entwicklung für die steuerliche Praxis. Die bestehende Zinssatzspreizung stellt eine erhebliche Belastung für Steuerpflichtige dar und kann in einigen Fällen sogar den Zugang zu effektivem Rechtsschutz beeinträchtigen.
Wir empfehlen unseren Mandant:innen, in relevanten Fällen Einspruch einzulegen und die weitere Entwicklung genau zu beobachten. Gleichzeitig sollte der Gesetzgeber die Gelegenheit nutzen, eine grundlegende Reform der steuerlichen Verzinsung anzustoßen, um Rechtssicherheit und Fairness für alle Beteiligten zu gewährleisten. Bis zu einer endgültigen Entscheidung des BVerfG und einer möglichen gesetzlichen Neuregelung werden wir unsere Mandant:innen weiterhin eng begleiten und individuell beraten.