17. Juli 2024
Die deutsche Wegzugsbesteuerung nach § 6 AStG – Unionsrechtliche Herausforderungen und aktuelle Rechtslage
Die Wegzugsbesteuerung ist ein komplexes und spannungsgeladenes Thema an der Schnittstelle von nationalem Steuerrecht und europäischem Unionsrecht. Sie berührt grundlegende Fragen des internationalen Steuerrechts wie die Aufteilung der Besteuerungsrechte zwischen den Staaten und den Schutz der Grundfreiheiten, insbesondere der Niederlassungsfreiheit. Gerade für vermögende Privatpersonen und Unternehmensleitungen, die einen Wohnsitzwechsel ins Ausland planen, ist es wichtig, die Grundzüge und jüngsten Entwicklungen der deutschen Regelung in § 6 AStG zu kennen, um die steuerlichen Folgen einschätzen zu können.
Der vorliegende Beitrag gibt einen Überblick über die Funktionsweise und Zielsetzung der Wegzugsbesteuerung in Deutschland, beleuchtet die unionsrechtliche Dimension und bewertet die aktuelle Rechtslage nach der jüngsten Reform durch das ATAD-Umsetzungsgesetz.
Das Konzept der Wegzugsbesteuerung nach § 6 Außensteuergesetz
Unter Wegzugsbesteuerung versteht man die Besteuerung der stillen Reserven im Zeitpunkt der Verlegung des steuerlichen Wohnsitzes ins Ausland. Damit sollen die Wertzuwächse erfasst werden, die während der unbeschränkten Steuerpflicht im Inland entstanden sind, auch wenn noch keine tatsächliche Veräußerung stattgefunden hat. Es werden also fiktive Veräußerungsgewinne besteuert, bevor durch den Wegzug die deutsche Steuerhoheit endet.
Die Regelung in § 6 Außensteuergesetz sieht vor, dass bei einer natürlichen Person, die insgesamt mindestens sieben Jahre innerhalb der letzten zwölf Jahre in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtig war, eine Besteuerung der unrealisierten Wertzuwächse in Kapitalgesellschaftsanteilen ausgelöst wird, wenn sie ihren Wohnsitz ins Ausland verlegt und dadurch die unbeschränkte Steuerpflicht endet.
Dieser Besteuerungszugriff erfolgt zu einem Zeitpunkt, zu dem der Wegzügler die Wertzuwächse noch nicht durch eine Veräußerung realisiert hat und daher typischerweise noch nicht über die liquiden Mittel verfügt, um die Steuer zu zahlen. Genau hier liegt der Kern der kontroversen Diskussion um die Wegzugsbesteuerung.
Die unionsrechtliche Dimension
Die Wegzugsbesteuerung steht in einem Spannungsverhältnis zu den europäischen Grundfreiheiten, insbesondere zur Niederlassungsfreiheit aus Art. 49 AEUV. Diese gewährleistet Unionsbürgern das Recht, sich in einem anderen Mitgliedstaat niederzulassen und dort einer selbständigen Erwerbstätigkeit nachzugehen.
Die sofortige Besteuerung der stillen Reserven zum Zeitpunkt des Wegzugs kann ein Hindernis für die Ausübung dieses Rechts darstellen. Außerdem führt sie zu einer Liquiditätsbelastung, die bei einem Verbleib im Inland nicht entstehen würde. Der Wegzügler wird also allein aufgrund der Ausübung seiner Niederlassungsfreiheit benachteiligt.
Auf der anderen Seite steht das berechtigte Interesse der Mitgliedstaaten, ihr Besteuerungsrecht auf die in ihrem Hoheitsgebiet entstandenen Wertzuwächse zu sichern. Würde man auf eine Wegzugsbesteuerung verzichten, könnten Steuerpflichtige durch einen Wohnsitzwechsel vor der Realisierung der Gewinne eine Besteuerung umgehen.
Diese widerstreitenden Interessen hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) in einer Reihe von Urteilen versucht abzuwägen. Er sieht in der Wegzugsbesteuerung grundsätzlich einen Eingriff in die Niederlassungsfreiheit, der aber gerechtfertigt sein kann, wenn er verhältnismäßig ist und legitime Ziele wie eine ausgewogene Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse zwischen den Mitgliedstaaten verfolgt.
Nach der Rechtsprechung des EuGH ist eine sofortige Festsetzung der Steuer zum Zeitpunkt des Wegzugs zwar zulässig, ein sofortiger Einzug wäre aber unverhältnismäßig. Stattdessen muss dem Wegzügler eine zinslose Stundung oder Ratenzahlung angeboten werden, um eine übermäßige Belastung zu vermeiden.
Diese Vorgaben haben in Deutschland wiederholt zu Anpassungen des § 6 AStG geführt. Die Vorschrift wurde mehrfach überarbeitet, um den Anforderungen des Unionsrechts, wie sie der EuGH herausgearbeitet hat, gerecht zu werden.
Die aktuelle Rechtslage des § 6 AStG nach der jüngsten Reform durch das ATAD-Umsetzungsgesetz
Einen vorläufigen Schlusspunkt in dieser Entwicklung markiert die Reform des § 6 Außensteuergesetz durch das ATAD-Umsetzungsgesetz aus dem Jahr 2021. Mit diesem Gesetz wurde die Anti-Steuervermeidungsrichtlinie der EU in deutsches Recht umgesetzt. Zugleich wurde die Wegzugsbesteuerung in wesentlichen Punkten neu geregelt.
Die vielleicht wichtigste Änderung betrifft die Stundungsregelung. Das bisherige Konzept einer zinslosen Stundung bis zur tatsächlichen Realisierung der Wertzuwächse wurde abgeschafft. Stattdessen führte der Gesetzgeber ein Ratenzahlungskonzept ein. Die festgesetzte Steuer kann jetzt auf Antrag in sieben gleichen Jahresraten gezahlt werden. Dies soll eine unionsrechtskonforme Besteuerung gewährleisten, indem es die sofortige Liquiditätsbelastung vermeidet, ohne vollständig auf den Besteuerungszugriff zu verzichten.
Zugleich wurde auch eine Verschärfung eingeführt: Die Stundung ist zu widerrufen, wenn der Steuerpflichtige nach dem Wegzug Gewinne von mehr als 25% des Werts der Anteile zum Wegzugszeitpunkt ausschüttet. Damit soll verhindert werden, dass die Ratenzahlung durch Gewinnausschüttungen unterlaufen wird.
Unsere Einschätzung zur Wegzugsbesteuerung nach § 6 AStG
Zugegeben: Das aktuelle Modell der Jahresraten in § 6 AStG ist nicht gerade der Stoff, aus dem die steuerrechtlichen Träume sind. Aber es dürfte den strengen Blicken der Richter in Luxemburg standhalten. Der EuGH hat ähnliche Regelungen bei der Besteuerung von Betriebsvermögen bereits abgenickt.
Aber was ist mit den Anteilen im Privatvermögen, um die es in § 6 AStG geht? Hier haben die europäischen Richter bisher wohlweislich geschwiegen. Vielleicht wollen sie uns auch einfach ein bisschen zappeln lassen. Eine echte dauerhafte Stundung bis zur Realisierung der Gewinne scheint jedenfalls nicht zwingend geboten. Der deutsche Gesetzgeber darf also aufatmen – vorerst.
Doch es bleiben Fragen offen, die dem Steuerjuristen schlaflose Nächte bereiten können. Da wäre zum einen die Behandlung von nachträglichen Wertminderungen. Hier hat der EuGH in der Vergangenheit eine gewisse Neigung zur Widersprüchlichkeit an den Tag gelegt. Bei Privatvermögen sollen sie berücksichtigt werden, bei Betriebsvermögen nicht. Klingt ein bisschen wie “Henne oder Ei?”, nicht wahr? Man darf gespannt sein, ob die Richter hier noch einmal für Klarheit sorgen werden.
Und dann ist da noch die Frage der Verhältnismäßigkeit. Ist es angemessen, die Steuerpflichtigen sieben Jahre lang Jahresraten zahlen zu lassen? Oder wäre eine kürzere Frist, sagen wir fünf Jahre, nicht auch ausreichend? Fragen über Fragen, die uns Steuerjuristen wohl noch eine Weile beschäftigen werden.
Eines ist jedenfalls sicher: Die Wegzugsbesteuerung bleibt ein Minenfeld, in dem man sich leicht verirren kann. Es braucht schon ein gehöriges Maß an Navigationsgeschick, um hier den Überblick zu behalten. Aber keine Sorge: Dafür haben Sie uns Experten. Wir behalten die Rechtsentwicklung im Auge und geben Ihnen rechtzeitig Bescheid, wenn es wieder etwas zu lachen (oder zu weinen) gibt.
Haben Sie Fragen zur Wegzugsbesteuerung oder möchten Sie sich beraten lassen? Unser Steuerberater Niels Webersinn steht Ihnen für Ihre Fragen jederzeit zur Verfügung.
Vermerk: Bitte beachten Sie, dass in diesem Dokument bei den durch Gesetze festgeschriebenen Begriffen auf das Gendern verzichtet wird, um die juristische Präzision und Klarheit zu wahren. In allen anderen Textteilen wird eine gendergerechte Sprache verwendet, um die Gleichstellung aller Geschlechter zu fördern.