25. September 2023
EuGH zu Massenentlassungen – Zeitenwende zugunsten von Arbeitgeber:innen?
Nach dem vom BAG entwickelten Sanktionsregime bei Nichtbeachtung der Anzeigepflichten nach § 17 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) drohten Arbeitgeber:innen bisher empfindliche Folgen. Das galt vor allem für die Nichtigkeit einer ausgesprochenen Kündigung. Das Ergebnis einer Vorlage zum Europäischen Gerichtshof (EuGH) hat dieses Sanktionsregime erschüttert. Wie der EuGH zu Massenentlassungen entschied, lesen Sie hier.
Der Sachverhalt: Verstoß gegen die Anzeigepflicht bei Massenentlassungen
Mit Urteil vom 13.7.2023 – C – 134/22 hat sich der EuGH dem durch das Bundesarbeitsgericht (BAG) vorgelegten Sachverhalt befasst:
Ein Insolvenzverwalter entschied sich im Rahmen der Beendigung der Geschäftstätigkeit am 17.01.2020 für die Entlassung von circa drei Viertel der rund 200 Arbeitnehmer:innen einer deutschen GmbH. Der Betriebsrat wurde am selben Tag unterrichtet, die Agentur für Arbeit (AfA) jedoch nicht. Diese erfuhr erst durch Anzeige der Kündigung einige Tage später von den beabsichtigten Kündigungen.
Am 28.01.2020 wurde dem Kläger gegenüber die Kündigung erklärt, gegen deren Wirksamkeit er am 18.02.2020 Kündigungsschutzklage wegen Verstoßes gegen § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG erhob.
Die Rechtslage bei Massenentlassungen: Ist die Entlassung unwirksam?
- 17 KSchG sieht besondere Anzeigepflichten bei „Massenentlassungen“ nach § 17 Abs. 1 KSchG vor. Will ein Unternehmen einen gesetzlich festgelegten Prozentsatz seiner Arbeitnehmer:innen entlassen, so geht der Gesetzgeber von besonders starken Auswirkungen auf den Gesamtarbeitsmarkt aus. Neben der Unterrichtung des Betriebsrates muss der Arbeitgeber daher die AfA unterrichten, sodass diese sich auf die Eingliederung der betroffenen Arbeitnehmer:innen in den Arbeitsmarkt vorbereiten kann.
Und dies im Grunde gleich zweimal. Zum einen muss das Unternehmen der AfA die Mitteilung an den Betriebsrat in Abschrift zukommen lassen (§ 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG). Daneben muss es der AfA nach § 17 Abs. 1 KSchG ein weiteres Mal unter Beifügung der dann erfolgten Stellungnahme des Betriebsrats Anzeige erstatten.
Das Problem dabei: Bei Verstößen gegen § 17 KSchG sieht das deutsche KSchG keine eigenen Sanktionen vor. Das BAG sah sich daher in der Pflicht, durch Rechtsauslegung das folgende Sanktionsregime selbst zu entwickeln.
In Anlehnung an allgemein geltende Rechtssätze prüfte es, ob der jeweilige Verfahrensteil arbeitnehmerschützenden (also drittschützenden) Charakter habe. War eine Regelung in § 17 KSchG arbeitnehmerschützend, so wurde die Kündigung nach § 134 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) als nichtig angesehen.
Die Vorlagefrage: Drittschutz bei Massenentlassungen?
Für weite Teile der Regelungen in § 17 KSchG war dies bereits geklärt – nicht aber für Abs. 3 Satz 1. Die nationalen Arbeitsgerichte haben in diesem Verfahren die Nichtigkeit nach § 134 BGB verneint, denn die Norm vermittle gerade keinen Arbeitnehmerschutz. Sie diene nicht dazu, der AfA Informationen zu vermitteln, durch die eine Entlassung vermieden werden könne. Mit anderen Worten: Die Norm vermittle keinen Individualschutz zugunsten der betroffenen Arbeitnehmenden.
Da § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG eine EU-Richtlinie in nationales Recht umsetzt, legte das BAG dem EuGH diese Frage zur endgültigen Entscheidung vor.
Die Entscheidung: Kein Individualschutz bei Massenentlassungen!
Der EuGH bestätigte die Rechtsauffassung der nationalen Gerichte. Die Abschrift der ersten Information an den Betriebsrat, die er der Arbeitsagentur übersenden muss, sei schon keine endgültige Version. Der Informationsfluss zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmervertretern sei dynamisch. Auf eine nicht endgültige Version könne man ohnehin nicht vertrauen.
Durch den Erhalt der Abschrift nach § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG würden keine weiteren rechtlichen Folgen ausgelöst. Sie sei im Gesamtprozess ohne eigenständige Bedeutung.
Aus diesen Gründen können sie auch keinen Drittschutz vermitteln.
Unsere Einschätzung
Diese Entscheidung stellt zumindest eine gewisse Erleichterung für Arbeitgeber:innen dar. Sie müssen bei Verstößen gegen § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG nicht mit einer Unwirksamkeit der Kündigung rechnen.
In Bezug auf andere Teile der Regelung sollten Sie eine solche Milderung der durch das BAG ersonnenen Rechtsfolgen nicht erwarten. Die Frage, ob das Europarecht grundsätzlich überhaupt die Nichtigkeit der Kündigung bei Verstoß verlangt, bleibt offen. Entgegen der bisherigen Auffassung des BAG ist diese nicht zwingend. Denn auch die zugrundeliegende EU-Richtlinie enthält keine Sanktionsvorschriften.
Die Erleichterung dürfte daher auf absehbare Zeit nur minimal bleiben. Wir empfehlen Ihnen auch weiterhin: Beachten Sie die Vermeidung der Nichtigkeit der Kündigung bei Massenentlassungen nach § 17 KSchG. Wenn Sie Fragen zum Kündigungsschutz haben, sprechen Sie uns gerne an.