
22. Mai 2025
BAG-Urteil: Arbeitgeber:innen müssen Zielvereinbarungen frühzeitig vorgeben
Inhaltsverzeichnis
- Die Folgen zu spät getroffenen Zielvereinbarungen: Wie war die Ausgangslage im vorliegenden Fall?
- Schadensersatz wegen verspäteter Zielvorgabe: Welche Auffassungen vertraten die Parteien und wie entschieden die Vorinstanzen?
- Warum kommt für das BAG eine nachträgliche Leistungsbestimmung gemäß § 315 Abs. 3 Satz 2 Halbs. 2 BGB nicht in Betracht?
- Warum scheidet ein Mitverschulden der Arbeitnehmer:innen bei unterlassener oder verspäteter Zielvorgabe regelmäßig aus?
- Wie verbindlich sind Zielvereinbarungen im Arbeitsrecht? Wann droht ein Schadensersatzrecht? Unsere Einschätzung zur aktuellen Rechtsprechung
In seinem Urteil vom 19. Februar 2025 (Az. 10 AZR 57/24) befasste sich das Bundesarbeitsgericht (BAG) mit der Frage des Schadensersatzes bei verspäteter Zielvorgabe im Rahmen eines Zielvereinbarungssystems. Ausgangspunkt des Verfahrens war die Problematik, ob und unter welchen Voraussetzungen ein:e Arbeitnehmer:in ein Schadensersatzrecht hat, wenn der Arbeitgeber die erforderlichen Ziele nicht rechtzeitig vorgibt und dadurch die Möglichkeit einer variablen Vergütung beeinträchtigt wird. Was passiert, wenn Zielvereinbarungen zu spät getroffen werden? Das BAG-Urteil klärt, wann Arbeitgeber schadensersatzpflichtig sind – und welche Folgen verspätete Zielvorgaben haben.
Die Folgen zu spät getroffenen Zielvereinbarungen: Wie war die Ausgangslage im vorliegenden Fall?
Der Kläger war bei der Beklagten bis zum 30. November 2019 als Mitarbeiter mit Führungsverantwortung beschäftigt. Arbeitsvertraglich war ein Anspruch auf eine variable Vergütung vereinbart. Eine ausgestaltende Betriebsvereinbarung bestimmt, dass bis zum 1. März des Kalenderjahres eine Zielvorgabe zu erfolgen hat, die sich zu 70 % aus Unternehmenszielen und 30 % aus individuellen Zielen zusammensetzt. Die Höhe des variablen Gehaltsbestandteils richtet sich nach der Zielerreichung des Mitarbeiters.
Am 26. September 2019 teilte der Geschäftsführer der Beklagten den Mitarbeitern mit Führungsverantwortung mit, für das Jahr 2019 werde bezogen auf die individuellen Ziele entsprechend der durchschnittlichen Zielerreichung aller Führungskräfte in den vergangenen drei Jahren von einem Zielerreichungsgrad von 142 % ausgegangen. Erstmals am 15. Oktober 2019 wurden dem Kläger konkrete Zahlen zu den Unternehmenszielen einschließlich deren Gewichtung und des Zielkorridors genannt. Eine Vorgabe individueller Ziele für den Kläger erfolgte nicht. Die Beklagte zahlte an den Kläger für 2019 eine variable Vergütung in Höhe von 15.586,55 Euro brutto.
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Schadensersatz wegen verspäteter Zielvorgabe: Welche Auffassungen vertraten die Parteien und wie entschieden die Vorinstanzen?
Der Kläger vertrat die Auffassung, die Beklagte sei ihm zum Schadensersatz verpflichtet, weil sie für das Jahr 2019 keine individuellen Zielvereinbarungen und die Unternehmensziele verspätet vorgegeben habe. Es sei davon auszugehen, dass er rechtzeitig vorgegebene Unternehmensziele zu 100 % und individuelle Zielvereinbarungen entsprechend dem Durchschnittswert von 142 % erreicht hätte. Deshalb stünden ihm unter Berücksichtigung der von der Beklagten geleisteten Zahlung weitere 16.035,94 Euro brutto als Schadensersatz zu.
Die Beklagte war dagegen der Auffassung, die Zielvorgabe sei rechtzeitig erfolgt und habe den Grundsätzen der Billigkeit entsprochen, weshalb ein Schadensersatzrecht wegen verspäteter Zielvorgabe ausgeschlossen sei. Unabhängig davon könne der Kläger allenfalls eine Leistungsbestimmung durch Urteil nach § 315 Abs. 3 Satz 2 Halbs. 2 BGB verlangen. Die Möglichkeit einer gerichtlichen Ersatzleistungsbestimmung schließe Schadensersatzansprüche wegen verspäteter Zielvorgabe aus. Im Übrigen sei die Höhe eines möglichen Schadens unzutreffend berechnet.
Das Arbeitsgericht wies die Klage des Klägers ab (ArbG Köln, 23.11.2022 – 12 Ca 2958/20), das Landesarbeitsgericht wiederum hat der Berufung des Klägers stattgegeben (LAG Köln, 06.02.2024 – 4 Sa 390/23).
Warum kommt für das BAG eine nachträgliche Leistungsbestimmung gemäß § 315 Abs. 3 Satz 2 Halbs. 2 BGB nicht in Betracht?
Die Revision der Beklagten hatte vor dem Bundesarbeitsgericht keinen Erfolg. Der Kläger hat gegen die Beklagte nach § 280 Abs. 1, Abs. 3 BGB i. V. m. § 283 Satz 1 BGB einen Anspruch auf Schadensersatz in Höhe von 16.035,94 Euro brutto.
Die Beklagte hat ihre Verpflichtung zu einer den Regelungen der Betriebsvereinbarung entsprechenden Zielvereinbarung für das Jahr 2019 schuldhaft verletzt, indem sie dem Kläger keine individuellen Ziele vorgegeben und ihm die Unternehmensziele erst verbindlich mitgeteilt hat, nachdem bereits etwa ¾ der Zielperiode abgelaufen waren.
Eine ihrer Motivations- und Anreizfunktion gerecht werdende Zielvorgabe war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr möglich. Deshalb kommt hinsichtlich der Ziele auch keine nachträgliche gerichtliche Leistungsbestimmung nach § 315 Abs. 3 Satz 2 Halbs. 2 BGB in Betracht.
Warum scheidet ein Mitverschulden der Arbeitnehmer:innen bei unterlassener oder verspäteter Zielvorgabe regelmäßig aus?
Bei der gemäß § 287 Abs. 1 ZPO im Wege der Schätzung zu ermittelnden Höhe des zu ersetzenden Schadens war gemäß § 252 Satz 2 BGB von der für den Fall der Zielerreichung zugesagten variablen Vergütung auszugehen. Es war anzunehmen, dass der Kläger bei einer Zielvorgabe, die nach billigem Ermessen festgelegt worden wäre, die Unternehmensziele zu 100 % und die individuellen Ziele entsprechend dem Durchschnittswert von 142 % erreicht hätte. Besondere Umstände, die diese Annahme ausschließen, hat die Beklagte nicht dargelegt. Daher musste sich der Kläger kein anspruchsminderndes Mitverschulden i.S.v. § 254 Abs. 1 BGB anrechnen lassen.
Bei einer unterlassenen oder verspäteten Zielvorgabe des Arbeitgebers scheidet ein Mitverschulden ders Arbeitnehmer:innen wegen fehlender Mitwirkung regelmäßig aus, weil allein der Arbeitgeber die Initiativlast für die Vorgabe der Ziele trägt.
Wie verbindlich sind Zielvereinbarungen im Arbeitsrecht? Wann droht ein Schadensersatzrecht? Unsere Einschätzung zur aktuellen Rechtsprechung
Das Bundesarbeitsgericht hat bereits in seiner grundlegenden Entscheidung vom 12. Dezember 2007 (10 AZR 97/07) klargestellt, dass Arbeitgeber bei Zielvereinbarungen verpflichtet sind, Arbeitnehmer:innen rechtzeitig konkrete Ziele vorzugeben. Unterbleibt dies, so verletzt der Arbeitgeber seine arbeitsvertraglichen Pflichten und ist den Arbeitnehmer:innen grundsätzlich zum Schadensersatz verpflichtet.
In späteren Urteilen – etwa am 10. Dezember 2008 (10 AZR 889/07) sowie am 12. Oktober 2011 (10 AZR 772/10) – hat das BAG diese Rechtsprechung konsequent fortgeführt und zudem betont, dass die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass Arbeitnehmer:innen ihre Ziele nicht oder nur unzureichend erreicht hätten, beim Arbeitgeber liegt. Das aktuelle Urteil reiht sich nahtlos in diese Linie ein. Es stellt klar, dass auch eine nachträgliche pauschale Festlegung eines Zielerreichungsgrades die Pflicht zur individuellen Zielvorgabe nicht ersetzen kann.
Das Urteil stärkt die Position der Arbeitnehmer:innen und erhöht den Handlungsdruck auf Arbeitgeber, Zielvereinbarungen strukturiert, nachvollziehbar und fristgerecht umzusetzen. Eine anwaltliche Überprüfung interner Zielvereinbarungsprozesse kann daher helfen, haftungsrelevante Versäumnisse zu vermeiden.
Haben Sie Fragen zum Thema Zielvereinbarungen im Arbeitsrecht und Schadensersatzrechte? Wenden Sie sich vertrauensvoll an unseren Rechtsanwalt Luca Jatzek, er unterstützt Sie gern.