18. April 2024
Scheinselbstständigkeit von Lehrkräften: Neues Urteil des BSG
Inhaltsverzeichnis
- Neue Rechtsprechung zur Scheinselbstständigkeit
- Abgrenzung zwischen abhängiger Beschäftigung und Selbstständigkeit
- Kriterien für Selbstständigkeit von Lehrkräften überarbeitet
- Neuausrichtung der Kriterien im Urteil des BSG
- Die tatsächliche Ausgestaltung ist entscheidend für die Einordnung
- Beurteilung der Selbstständigkeit nach individuellen Umständen
- Maßgeblich für Lehrkräfte ist unternehmerische Gestaltungsfreiheit
- Sonderkriterien nicht mehr anwendbar
- Unsere Einschätzung
Das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 28. Juni 2022 (B 12 R 3/20 R) zur Statusfeststellung einer Lehrerin an einer Musikschule markiert einen Wendepunkt in der Praxis. In Zukunft könnten vermeintlich selbstständige Lehrkräfte verstärkt ins Visier von Prüfungen und Gerichtsverfahren geraten. Das kann zu erheblichen Beitragslasten führen. Welche Veränderungen mit dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 28.06.2022 einhergehen, erfahren Sie hier.
Neue Rechtsprechung zur Scheinselbstständigkeit
Gestützt auf vorangegangene Entscheidungen hat das Bundessozialgericht seine Rechtsprechung zur Statusbeurteilung von Lehrkräften und Dozenten weiterentwickelt. Es hat das Kriterium der betrieblichen Eingliederung geschärft, das nun maßgebend zur Statusbeurteilung beiträgt.
Während das BSG noch in seinem Urteil vom 14.03.2018 (B 12 R 3/17 R) bei fast identischem Sachverhalt eine selbstständige Tätigkeit eines Musikschullehrers annahm, stuft es nun eine Lehrerin an einer städtischen Musikschule als abhängig Beschäftigte ein.
Abgrenzung zwischen abhängiger Beschäftigung und Selbstständigkeit
Grundsätzlich erfolgt die rechtliche Beurteilung eines Arbeitsverhältnisses durch die Abgrenzung zwischen einer abhängigen Beschäftigung und einer selbständigen Tätigkeit.
Im Sinne des § 7 Abs. 1 SGB IV ist Beschäftigung die nichtselbstständige Arbeit, die meist in einem Arbeitsverhältnis stattfindet. Anhaltspunkte für eine Beschäftigung sind
- eine Tätigkeit nach Weisungen und
- eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers.
Eine abhängige Beschäftigung liegt dann vor, wenn eine persönliche Abhängigkeit der Arbeitnehmer:innen von Arbeitgebenden besteht und Arbeitnehmer:innen in den Betrieb eingegliedert sind. Zudem müssen sie einem nach Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung umfassenden Weisungsrecht des/der Arbeitgebenden unterliegen, sodass ein fremder Betrieb gegeben ist.
Die Weisungsgebundenheit kann dann eingeschränkt sein, wenn beispielsweise Dienste höherer Art vorliegen. Darunter versteht man Tätigkeiten hochqualifizierter Erwerbstätiger beziehungsweise Erwerbstätige mit Leiterfunktion.
Kriterien für Selbstständigkeit von Lehrkräften überarbeitet
Die bisherige Rechtsprechung hat eine Reihe von Kriterien für die Feststellung der Selbstständigkeit von Lehrkräften entwickelt. Es handelt sich um eine selbstständige Tätigkeit, wenn
- ein eigenes Unternehmensrisiko sowie die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft besteht,
- eine eigene Betriebsstätte vorhanden ist und
- die Tätigkeit sowie die Arbeitszeit im Wesentlichen frei gestaltet werden kann.
Lehrer:innen und Dozent:innen wurden beispielhaft als selbstständig eingestuft, wenn sie
- den Unterricht frei gestalten konnten,
- im Krankheitsfall die Lohnfortzahlung entfiel sowie
- begrenzte Honorarverträge abgeschlossen wurden.
Entsprechend wurden Lehrkräfte als Selbstständige betrachtet, wenn ihre Lehrverpflichtungen von Anfang an zeitlich und inhaltlich begrenzt waren und sie keine zusätzlichen Verpflichtungen hatten.
Neuausrichtung der Kriterien im Urteil des BSG
Das aktuelle Urteil des BSG markiert jedoch eine Neuausrichtung der Kriterien und ihrer Gewichtung.
Die Abgrenzung zwischen einer abhängigen Beschäftigung und einer selbstständigen Tätigkeit erfolgt nun anhand der prägenden Umstände des Gesamtbildes der Arbeitsleistung. Im Kern soll der Frage nachgegangen werden, welche Merkmale überwiegen (vgl. BSG Urteil vom 01.02.2022 – B 12 KR 37/19 R).
Für die Ermittlung müssen die in Betracht kommenden Umstände des Einzelfalles festgestellt werden. Dann folgt das Erkennen der Tragweite der einzelnen festgestellten Umstände und deren Einordnung sowie Gewichtung. Abschließend wird eine Gesamtabwägung vorgenommen (vgl. BSG Urteil vom 19.10.2021 – B 12 R 10/20 R).
Generell soll es bei der Beurteilung auf die konkreten Umstände des individuellen Beschäftigungsverhältnisses ankommen.
Die tatsächliche Ausgestaltung ist entscheidend für die Einordnung
In dem vom BSG zu entscheidenden Fall ging es um eine Musikschullehrerin, die aufgrund abgeschlossener Honorarverträge ein festes Honorar erhielt. Sie nutzte die Räumlichkeiten sowie die Klaviere und Keyboards der Musikschule. Die Gestaltung des Unterrichts erfolgte auf Basis der Rahmenlehrpläne. Laut den Verträgen war die Musikschullehrerin für das Abführen der Einkommenssteuer sowie für die Krankenversicherung und Altersvorsorge selbst verantwortlich. Zudem sollte gerade kein Arbeitsverhältnis begründet werden und Entgeltfortzahlungen im Krankheitsfall als auch Urlaubsansprüche wurden ausgeschlossen.
Unter Außerachtlassung der bisher geltenden Sonderkriterien für Lehrkräfte und Dozent:innen hat das BSG am 28.06.2022 entschieden, dass die Musikschullehrerin als abhängig Beschäftigte einzustufen ist.
Maßgeblich stützte das BSG seine Entscheidung darauf, dass die Lehrerin hinsichtlich Art, Ort und Inhalt des Unterrichts an die Weisungen der Musikschule gebunden war und in die Arbeitsorganisation eingegliedert wurde.
Im Sinne des BSG erfolgt die Statusbeurteilung zwar grundsätzlich nach den getroffenen Vereinbarungen der Parteien, also auch nach mündlichen und konkludenten Änderungen, die Ernsthaftigkeit der dokumentierten Vereinbarungen muss jedoch geprüft werden. Die Vertragsschließenden können die rechtliche Einordnung insgesamt nicht allein entscheiden. Um dem besonderen Schutz der Sozialversicherung gerecht zu werden, kommt es laut BSG maßgeblich auf die tatsächliche Ausgestaltung und Durchführung des individuellen Vertragsverhältnisses an (vgl. BSG Urteil vom 19.10.2021 – B 12 R 10/20 R). Eine Zuordnung nach dem Willen der Vertragsparteien ist im Einzelfall nur dann möglich, wenn nach der Gesamtabwägung sowohl von einer selbständigen Tätigkeit als auch einer abhängigen Beschäftigung ausgegangen werden könnte.
Im genannten Fall ist das BSG zum Ergebnis gelangt, dass nach einer Gesamtbetrachtung die Merkmale für eine abhängige Beschäftigung überwogen. Entgegen den getroffenen Vereinbarungen unterlag die Musikschullehrerin einem Weisungsrecht und war in die organisatorischen Abläufe der Musikschule eingebunden.
Wie bereits dargestellt, richtet sich die Beurteilung der Einordnung als abhängige Beschäftigung im Grunde nach § 7 Abs. 1 SGB IV.
Beurteilung der Selbstständigkeit nach individuellen Umständen
Das BSG kam zum Ergebnis, dass Weisungsgebundenheit und Eingliederung in keinem Rangverhältnis zueinander stehen und nicht kumulativ vorliegen müssen. Insbesondere bei Diensten höherer Art besteht weitgehend fachliche Weisungsfreiheit. Dennoch ist eine fremdbestimmte Dienstleistung dann möglich, wenn durch die Eingliederung ein fremdbetriebliches Gepräge gegeben ist. Da es zunehmend zur zeitlichen, örtlichen sowie teilweise inhaltlich freien Ausgestaltung der Tätigkeit für den/die Arbeitnehmer:in kommt, nimmt das BSG erst dann Selbstständigkeit an, wenn die Tätigkeit durch unternehmerische Freiheit geprägt ist.
Maßgeblich für Lehrkräfte ist unternehmerische Gestaltungsfreiheit
Eine unternehmerische Tätigkeit liegt dann vor, wenn die handelnde Person eigenverantwortlich unternehmerisch mit Chancen und Risiken handeln kann. Demnach ist von einer selbstständigen Tätigkeit die Rede, wenn eine Weisungsfreiheit vorliegt, die sich unternehmerisch kennzeichnet (vgl. BSG Urteil vom 27.04.2021 – B 12 R 16/19 R). Somit hängt die Beurteilung maßgeblich von der unternehmerischen Gestaltungsfreiheit ab.
Sonderkriterien nicht mehr anwendbar
Die bisher anerkannten Sonderkriterien für Lehrer:innen und Dozent:innen zur Einstufung der Selbstständigkeit finden in ihren Grundzügen keine Anwendung mehr.
Die Statusbeurteilung hängt entscheidend von der Gesamtbetrachtung der Umstände ab. Bedeutung erlangt dabei im Besonderen die tatsächliche Aus- und Durchführung der Tätigkeit sowie die Beurteilung, ob die Tätigkeit als unternehmerisch eingestuft wird.
Unsere Einschätzung
Es bleibt abzuwarten, wie sich diese Entwicklungen konkret in der Praxis auswirken und inwieweit sie zu einer verstärkten Prüfung führen werden. Durch das Urteil könnte die langjährige Praxis der selbstständigen Lehrkräfte in Zukunft wieder stärker in den Fokus von Prüfungen und Gerichtsentscheidungen rücken. In Anbetracht der potenziellen Auswirkungen ist ein sorgfältiges und rechtssicheres Vorgehen von großer Bedeutung. Wenn Sie Hilfe bei der Anpassung Ihrer Vertragsvereinbarungen benötigen, unterstützen wir Sie gerne. Kontaktieren Sie uns!