10. August 2023
Mitwirkungspflicht: keine Selbstbelastungsfreiheit im Versicherungsrecht
Niemand ist dazu verpflichtet, sich selbst anzuklagen oder nemo tenetur se ipsum accusare ist ein im Strafrecht geltender Grundsatz. Ob dieser auch für Auskünfte gilt, die Versicherte nach einem Versicherungsfall an den Versicherer erteilen müssen, hat das Landgericht Osnabrück nun beantwortet. Die Antwort lautet: Nein. Und damit steckt das Gericht die Grenzen der Mitwirkungspflichten des Versicherten zugunsten des Versicherers ab. Dieses Urteil sollten Sie kennen.
Der zugrundeliegende Fall: Feuer im Restaurant
Am 15. Januar 2018 zerstörte ein Brand die Inneneinrichtung eines Osnabrücker Gastronomiebetriebes. Die Versicherungsnehmerin bezifferte den Schaden mit 640.000,00 EUR und nahm in dieser Höhe ihren Versicherer in Anspruch.
Dieser schickte der Versicherungsnehmerin einen Katalog mit 20 Fragen zur weiteren Aufklärung und Bearbeitung des Vorfalls. Der Versicherer bewertete dessen Beantwortung im August 2018 aber als ungenügend. Er lehnte nach erfolgloser Fristsetzung aufgrund der unvollständigen Beantwortung der Versicherungsnehmerin die Einstandspflicht ab. Dagegen ging die Versicherungsnehmerin gerichtlich vor.
Mitwirkungspflicht: das Zusammenspiel von Straf- und Versicherungsrecht
Die Versicherungsnehmerin berief sich bei der Verweigerung verlangter Angaben auf die Freiheit der Selbstbelastung. Diese leitete sie aus dem folgenden Umstand her:
Im deutschen Strafrecht gilt der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit (nemo tenetur se ipsum accusare – niemand ist verpflichtet, sich selbst anzuklagen). Dieser ist Wesensinhalt der Art. 1 und 2 des Grundgesetzes und findet in den §§ 136 Abs. 1, 163 StPO seine konkrete Ausprägung. Er bedeutet, dass niemand im Rahmen der Strafverfolgung durch deutsche Behörden Dinge aussagen muss, durch die er sich selbst belasten könnte. Anders ausgedrückt: Ein Beschuldigter muss nicht an seiner eigenen Überführung mitwirken.
Es bleibt jedoch die Frage, ob sich dieser Grundsatz auch auf andere Rechtsbereiche ausweiten lässt. In diesem Fall wäre es das Versicherungsrecht. Denn der Ausgangspunkt der Versicherungsnehmerin liegt auf der Hand: Sie musste im Fragebogen Auskünfte erteilen, die sie in einem Strafverfahren nicht zurückhalten würde. Im konkreten Fall war das Vorliegen einer vorsätzlichen Brandstiftung erkennbar. Unklar war aber, wer diese begangen hat. Die Versicherung stellte deshalb Fragen, die sich auf eine mögliche Tatmotivation und -beteiligung der Versicherten richteten. Deren Beantwortung hätte die Versicherte die Schadensregulierung der Versicherung gekostet.
Urteil zur Mitwirkungspflicht: kein nemo tenetur im Versicherungsrecht
Das LG Osnabrück (Urteil v. 24.05.2023 – Az. 9 O 3254/21) stellt klar: Der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit gilt nicht im Versicherungsrecht. Die Versicherungsnehmerin muss gegenüber dem Versicherer auch Angaben machen, durch die sie sich selbst belasten könnte.
Die Versicherungsnehmerin hat ihre Obliegenheit aus den Allgemeinen Versicherungsbedingungen vorsätzlich verletzt. Sie hätte den Versicherungsgeber sofort über alle Umstände, die für die Feststellung des Versicherungsfalles notwendig sind, in Kenntnis setzen müssen. Das umfasst auch die Informationen, aus denen sich, etwa nach § 81 Gesetz über den Verischerungsvertrag, die Leistungsfreiheit des Versicherers ergeben würde. Auch wenn diese Aussagen dem Interesse des Versicherungsnehmers widerspricht.
Mitwirkungspflicht: Was bedeutet das für Versicherungsgeber?
Die Ablehnung des Grundsatzes nemo tenetur entspricht der unterschiedlichen Interessenlage in Straf- und Zivilrecht. Während im Strafrecht der Staat im Über-Unterordnungsverhältnis dem Beschuldigten gegenübertritt, verhält sich dies im Zivilrecht nicht so: Versicherungsnehmer und -geber sind durch Vertrag gegenseitig verbunden. Keine der beiden Parteien braucht besonderen Schutz.
Die Entscheidung definiert die Mitwirkungspflicht des Versicherten zugunsten des Versicherungsgebers, bis hin zur vollständigen Leistungsfreiheit.
Unsere Einschätzung
Die Entscheidung des LG Osnabrück ist nachvollziehbar. Eine ausreichende Sachverhaltsaufklärung wäre ohne die Mitwirkung des Versicherungsnehmers oft gar nicht möglich. Würde man die Selbstbelastungsfreiheit im Versicherungsvertragsverhältnis zulassen, wäre der Ermittlungsaufwand des Versicherers zu hoch. Dies würde sich auch auf die Versichertengemeinschaft und die kalkulierten Prämien auswirken.
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