28. Juli 2022

MwStSystRL der EU – Zankapfel Reihengeschäfte

Kategorien: Unkategorisiert

Kettenumsätze beziehungsweise Reihengeschäfte sind komplex – trotz Harmonisierung durch die EU-Mehrwertsteuersystemrichtlinie (MwStSystRL) werden Fragen bleiben. Lesen Sie hier, was Sie als Unternehmer:in dazu wissen müssen.

Hintergrund zur EU-Mehrwertsteuersystemrichtlinie (MwStSystRL)

Am 7. Juli 2022 hat der Europäische Gerichtshof sein Urteil im Fall B gegen Dyrektor Izby Skarbowej w W (C-696/20) veröffentlicht. Der Fall behandelt den Korrekturmechanismus gemäß Art. 41 der EU-Mehrwertsteuersystemrichtlinie (MwStSystRL) im Zusammenhang mit einem mittleren Unternehmer in einem Reihengeschäft. Dieser hatte lokale Umsatzsteuer für eine innergemeinschaftliche Lieferung in Rechnung gestellt bekommt.

Dieser Fall illustriert die Komplexität von Kettenumsätzen beziehungsweise Reihengeschäften. Grundsätzlich ist der Ort des innergemeinschaftlichen Erwerbs gemäß Art. 40 MwStSystRL (entspricht § 3d Satz 1 UStG) dort, wo sich die Gegenstände zum Zeitpunkt der Beendigung des Transports befinden, also im Bestimmungsland. Art. 41 MwStSystRL (entspricht § 3d Satz 2 UStG) als Korrekturmechanismus beinhaltet jedoch eine wichtige Abweichung von dieser Regel. Nach dieser Regel ist der innergemeinschaftliche Erwerb in dem Staat zu besteuern, dessen Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummer (USt-ID) Erwerber:innen verwenden. Das gilt, sofern Erwerber oder Erwerberin nicht nachweisen, dass der Erwerb im Bestimmungsland versteuert wurde. Das bedeutet, Erwerber:innen müssen in diesem Land einen Erwerb erklären und versteuern. Das gilt, bis die Besteuerung im Bestimmungsland nachgewiesen beziehungsweise durchgeführt wurde. Diese Erwerbsteuer darf jedoch nicht als Vorsteuer gezogen werden. Es kommt somit zur Entrichtung von Umsatzsteuer für den Erwerb. Diese wird auch als „Strafsteuer“ oder „Straferwerbssteuer“ bezeichnet.

Der Zweck dieses Korrekturmechanismus ist es, die Besteuerung des innergemeinschaftlichen Erwerbs sicherzustellen. Denn ansonsten könnten Erwerber:innen jedwede USt-ID kommunizieren, um einer Besteuerung zu entgehen.

Ausgangslage zum Fall rund um die MwStSystRL der EU

B ist eine Gesellschaft mit Sitz in den Niederlanden. Zudem war B sowohl in den Niederlanden als auch in Polen für umsatzsteuerliche Zwecke registriert.

B erwarb von dem ersten Lieferanten BOP (im folgenden A) Waren und verkaufte die Waren an den letzten Abnehmer C. Die Beförderung der Gegenstände erfolgte unmittelbar von dem in Polen ansässigen A. Und zwar an den in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen C (letzter Abnehmer). B trat dabei unter seiner polnischen USt-ID auf. Die Lieferungen von A an B wurden als inländische Lieferungen eingestuft und mit polnischer Umsatzsteuer (23 Prozent) fakturiert. Ihre eigenen Lieferungen an ihre Abnehmer in anderen Mitgliedstaaten behandelte B hingegen als innergemeinschaftliche Lieferungen von Gegenständen, für die in Polen ein Mehrwertsteuersatz von 0 Prozent galt, was in den Umsatzsteuererklärungen von B zu Vorsteuerüberhängen aus den Eingangsleistungen (Steuererstattungen) führte.

Im Gegensatz zu B ordneten die polnischen Behörden die Beförderung und damit die innergemeinschaftliche grenzüberschreitende Lieferung dem ersten Umsatz zu und vertraten die Auffassung, dass B gemäß Art. 41 MwStSystRL einen innergemeinschaftlichen Erwerb in Polen zu erklären und hierfür polnische Mehrwertsteuer zu entrichten hatte. Nach Ansicht der polnischen Steuerbehörden durfte B die polnische Mehrwertsteuer für diesen innergemeinschaftlichen Erwerb nicht als Vorsteuer geltend machen, solange B nicht nachwies, dass er die Erwerbsbesteuerung im Bestimmungsland durchgeführt hatte. Darüber hinaus wurde die Mehrwertsteuer auf den (inländischen) Verkauf von dem ersten polnischen Lieferanten A an B erhoben, B sei jedoch der Vorsteuerabzug aus diesen Rechnungen zu versagen. Im Ergebnis führte dies für die Lieferung von A an B zu einer doppelten Mehrwertsteuer-Belastung von 46 Prozent für B.

Komplexe Kettenumsätze beziehungsweise Reihengeschäfte – darum ging es im Prozess

Das vorlegende polnische Gericht führte aus, dass im vorliegenden Fall die im Rahmen des Reihengeschäfts bewirkten Lieferungen der Mehrwertsteuer unterworfen und auf jeder Stufe der Kette gezahlt worden sei. Also kein Betrugsfall vorlag. Die polnischen Steuerbehörden hätten zu Recht angenommen, dass B bei der Einstufung der verschiedenen in Rede stehenden Lieferungen Fehler begangen habe. Diese hätte zur Anwendung des Korrekturmechanismus gemäß Art. 41 MwStSystRL (entspricht Art. 25 Abs. 2 des polnischen Mehrwertsteuergesetzes) geführt.

Aufgrund der Doppelbesteuerung, welche zu einem Verstoß gegen den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit führe, wirft das vorlegende Gericht die Frage nach der Anwendung des Korrekturmechanismus gemäß Art. 41 MwStSystRL durch die Steuerbehörde auf. Das Ziel von Art. 41 bestehe darin, Steuerumgehungen zu bekämpfen. B und seine Vertragspartner hätten aber weder einen Betrug begangen noch missbräuchlich gehandelt. B war schon durch die Rechnung von A an B und der Versagung des Vorsteuerabzugs hieraus mit 23 Prozent polnischer Umsatzsteuer belastet. Das vorlegende Gericht stellte daher die Frage, ob trotzdem noch eine Erwerbsbesteuerung im Rahmen des Korrekturmechanismus durchzuführen sei oder ob man den Erwerb dadurch als besteuert ansehen kann, dass der letzte Abnehmer C für die Lieferung von B an ihn die Erwerbsbesteuerung durchgeführt hat.

Urteil des Europäischen Gerichtshofs

Der Gerichtshof stellte zunächst fest, dass der Korrekturmechanismus an sich nicht verhindern sollte, dass innerstaatliche Rechtsvorschriften einen innergemeinschaftlichen Erwerb im Abgangsland besteuern. Die Tatsache, dass B eine inländische USt-ID für eine Lieferung mitgeteilt hat, die fälschlicherweise als Inlandslieferung angesehen wurde, steht der Anwendung des Korrekturmechanismus nicht entgegen.

Auch die Tatsache, dass die Kund:innen von B den Erwerb in den Bestimmungsländern besteuert haben, ist für die Beurteilung der Frage, ob der Korrekturmechanismus Anwendung findet, nicht von Bedeutung. Denn die von diesen Kund:innen durchgeführte Erwerbsbesteuerung betrifft die Mehrwertsteuer, die auf die zweite Lieferung in der Reihe von B an den letzten Abnehmer C anfällt, im Gegensatz zu dem vorliegenden Rechtsstreit, in dem es um die Behandlung der ersten Lieferung in der Reihe geht. Anders ausgedrückt: Jedes Unternehmen muss die sich aus seinen eigenen Umsätzen ergebenden steuerlichen Verpflichtungen selbst verwalten und erfüllten.

Glücklicherweise fand der Gerichtshof eine Lösung um eine Doppelbesteuerung zu vermeiden. Dazu zog er den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer heran. Nach Ansicht des Gerichtshofs bedeutete die Tatsache, dass die polnischen Steuerbehörden die erste Lieferung in der Reihe als besteuerte innergemeinschaftliche Lieferung behandelten, dass keine Gefahr der Steuerhinterziehung bestand. Und daher bestand auch keine Notwendigkeit, den Korrekturmechanismus des Art. 41 MwStSystRL anzuwenden.

Indem die polnischen Steuerbehörden versuchten, den Korrekturmechanismus anzuwenden und den Abzug der Vorsteuer auf den inländischen Erwerb zu verweigern, hätten sie daher gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der Neutralität verstoßen.

Unsere Einschätzung

Der Fall betraf Reihengeschäfte aus der Zeit vor der Umsetzung der sogenannten „Quick Fixes“. Diese sind seit Januar 2020 in Kraft. Nach den derzeitigen Vorschriften müssen Kund:innen ihren Lieferant:innen eine gültige ausländische USt-ID mitteilen (materielle Voraussetzung). Nur so können sie die Mehrwertsteuerbefreiung für innergemeinschaftliche Lieferungen in Anspruch nehmen. Die Ergänzung der USt-ID als materielle Voraussetzung bedeutet, dass die Lieferant:innen ohne eine solche gültige ausländische USt-ID die Mehrwertsteuer auf die innergemeinschaftliche Lieferung in Rechnung stellen müssen. Grund: Die Voraussetzungen für die Steuerbefreiung sind sonst nicht erfüllt. Demnach könnte die Lösung bei Anwendung der derzeitigen Vorschriften durchaus anders aussehen.

Nach den derzeitigen Vorschriften würden die Behörden auf innergemeinschaftliche Lieferungen, die an Kund:innen mit inländischer USt-ID ausgeführt werden, auf jeden Fall die inländische Mehrwertsteuer erheben. Eventuell könnte dem mittleren Unternehmer oder der Unternehmerin aus einer Rechnung der ersten Lieferant:innen mit Ausweis der lokalen Umsatzsteuer des Abgangslandes der Vorsteuerabzug zu gewähren sein. Dementsprechend könnte dann auch der Korrekturmechanismus des Art. 41 EU MwStSystRL greifen und hieraus kein Vorsteuerabzug gewährt werden, da in diesem Fall keine Doppelbesteuerung vorläge.

In jedem Fall zeigt dieses Urteil einmal mehr die Komplexität von grenzüberschreitenden Kettenumsätzen beziehungsweise Reihengeschäften auf.

Haben Sie Fragen zu MwStSystRL der EU oder haben Sie regelmäßig mit komplexen Kettenumsätzen beziehungsweise Reihengeschäften zu tun?
Dann sprechen Sie uns jederzeit gerne an!

Marcus Sauer

Partner und Steuerberater

Sebastian Raphael Vogt

Prokurist, Head of Indirect Tax, Rechtsanwalt (Syndikusanwalt)

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