Streik: Warum das Tarifeinheitsgesetz bei der Bahn nicht gilt 
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20. März 2024

Streik: Warum das Tarifeinheitsgesetz bei der Bahn nicht gilt 

Kategorien: Rechtsberatung

Die Lokführergewerkschaft GDL legte im Tarifstreit mit der Bahn mit zahlreichen Streiks immer wieder Teile des öffentlichen Verkehrs lahm. Das Streikrecht polarisiert momentan stärker denn je. Eine etwas weiter gehende Sachfrage ist, warum die GDL überhaupt die Bahn bestreiken darf. Schließlich besteht zwischen der Bahn und ihrer größten Gewerkschaft, der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG, längst ein Tarifvertrag. Hier finden Sie die Antwort. 

Streikrecht: Gilt der Tarifvertrag mit der größten Gewerkschaft?

Nach dem Tarifeinheitsgesetz gilt in einem Betrieb im Zweifelsfall nur der Tarifvertrag mit der mitgliederstärkeren Gewerkschaft. Musste sich schon 2017 das Bundesverfassungsgericht mit der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes befassen, bestätigt 2022 auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass das Gesetz angewendet werden muss.

Auf den ersten Blick trifft das Tarifeinheitsgesetz genau auf die aktuelle Situation bei der Bahn zu. Die Mitarbeitenden sind in unterschiedlichen Gewerkschaften (GDL und EVG) organisiert und es besteht kein einheitlicher Tarifvertrag. Die GDL meldete zuletzt knapp 40.000 Mitglieder und hat damit durchaus weniger Mitglieder als die EVG mit rund 180.000 Mitgliedern.

Entscheidend ist aber die Konzernstruktur: Betrachtet man den gesamten Konzern der Bahn, ist die EVG am mitgliederstärksten. Tarifverträge gelten aber nicht auf Konzern- sondern auf Betriebsebene. Der Konzern ist unterteilt in 300 sogenannter Wahlbetriebe. In über 50 dieser Betriebe führt die EVG als größte Gewerkschaft die Verhandlungen über den Tarifvertrag. In fast 20 Betrieben verhandelt jedoch die GDL.

Aufgrund ihrer Konzernstruktur nützt der Bahn das Tarifeinheitsgesetz daher nicht. Es gibt Stimmen, die sagen, dass das Tarifeinheitsgesetz die Machtkämpfe der Gewerkschaften untereinander sogar noch verstärken. So wirbt etwa die EVG mit dem Hinweis auf das Tarifeinheitsgesetz um Mitglieder. Die GDL positioniert sich öffentlich gegen das „handzahme” Vorgehen der Konkurrenzgewerkschaft.

Das Streikrecht hat Verfassungsrang

Gesetze im Bereich des Tarifvertragsrechts müssen mit besonderer Sorgfalt behandelt werden. Schließlich ist die Koalitionsfreiheit im Grundgesetz unter Art. 9 Abs. 3 GG als Grundrecht geschützt. Mit seinem Urteil vom 26. Juni 1991 – 1 BvR 779/85 hat das Bundesverfassungsgericht auch das Streikrecht 1991 ausdrücklich als Rechtsgut mit Verfassungsrang anerkannt.

2017 stellte das Bundesverfassungsgericht dann fest, dass die Regelungen des Tarifeinheitsgesetzes weitgehend mit Art. 9 Abs. 3 GG vereinbar sein. Zwar greife die Regelung teilweise in die Koalitionsfreiheit ein, das Streikrecht als solches sei aber nicht gefährdet. Der Gesetzgeber sei befugt, solche Strukturen zu schaffen, die einen fairen Ausgleich zwischen den Interessen aller Arbeitnehmer eines Betriebes ermöglichen. Daher forderte das Bundesverfassungsgericht nur Nachbesserungen vom Gesetzgeber zum Schutz kleiner Berufsgruppen, zur Vermeidung einer übermäßigen Benachteiligung. Insgesamt setzte es auf eine restriktive Auslegung der Regelungen. Die Tarifeinheit solle demnach zum Beispiel zur Disposition der Tarifvertragsparteien stehen. Dadurch sollen widerstreitende Gewerkschaften mit den Arbeitgebern vereinbaren können, dass das Tarifeinheitsgesetz nicht angewendet werden soll.

Eine solche Vereinbarung traf 2017 zum Beispiel ver.di und der Marburger Bund. Sie vereinbarten, gegenüber den Arbeitgebern zu fordern, dass der Tarifvertrag der jeweils anderen Gewerkschaft nicht verdrängt werde.

Bis 2020 gab es auch bei der Bahn eine Vereinbarung zwischen dem Konzern und der GDL, welche sicherstellen sollte, dass auch die GDL-Tarifverträge angewendet werden, obwohl die Gewerkschaft nur in wenigen Bahnbetrieben die Mehrheit der Gewerkschaftsmitglieder hat.

Unsere Einschätzung

Aufgrund der verfassungsrechtlichen Bedeutung des Arbeitskampfes müssen sich Regelungen zum Tarif- und Streikrecht an hohen Maßstäben messen lassen. Es bleibt abzuwarten, ob und wie der Gesetzgeber und die Rechtsprechung die Tarifeinheit unter Berücksichtigung der Interessen aller Beteiligten vorantreiben wird. Sind in Ihrem Betrieb unterschiedliche Gewerkschaften repräsentiert, kann sich das Tarifeinheitsgesetz auch auf Sie auswirken. Bei Fragen zum Tarif- und Streikrecht stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung.

 

 

Marcus Büscher

Partner, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht

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