29. März 2023
Entscheidung zum Thermofenster – EuGH wirbelt (Fein-)Staub auf
Eigentlich schien die Rechtslage rund um die Abschalteinrichtungen in Diesel-Autos durch die deutsche Rechtsprechung geklärt. Nun hat der EuGH ein neues Kapitel in der rechtlichen Aufarbeitung des Dieselskandals aufgeschlagen: Schon bei Fahrlässigkeit der Hersteller können Pkw-Käufer:innen auf Schadenersatz hoffen. Die bisherige Linie der deutschen Rechtsprechung muss auf den Prüfstand.
Darum geht der Dieselskandal von damals heute weiter
2015 begann der Dieselskandal, er beschäftigt die deutschen Gerichte bis heute. Volkswagen räumte gegenüber der US-Umweltbehörde Manipulationen bei Diesel-Abgastests ein: Eine spezielle Software erkannte, wenn der Wagen auf einem Prüfstand war. Die Software sorgte dann dafür, dass Fahrzeuge bei der Abgaskontrolle weniger Abgase ausstießen als im realen Betrieb.
Andere große Autobauer pflegten ähnliche Praktiken. Das Thermofenster eines Mercedes-Modells koppelte die Qualität der Abgasreinigung an die Temperatur: Die Abgasreinigung wird verringert, wenn die Außentemperaturen unter einen bestimmten Schwellenwert fallen. Die Autobauer geben an, dies solle lediglich den Motor schützen. Kritiker sehen auch hier eine Umgehung der Prüfbindungen. Nach bisheriger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) genügte dies nicht zur Begründung eines Schadensersatzanspruchs des Käufers oder der Käuferin. Die Kriterien waren streng. Ein Anspruch könne sich allein aus vorsätzlich sittenwidriger Schädigung ergeben (§ 826 BGB): „Wer in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise einem anderen vorsätzlich Schaden zufügt, ist dem anderen zum Ersatz des Schadens verpflichtet.“
Für den VW-Motor EA 189 wurde das wegen der Prüfstandserkennung bejaht. Beim Thermofenster von Mercedes tat man sich schwerer. Denn dieses kam immer und nicht nur bei der Grenzwertprüfung zur Anwendung. Es habe nicht festgestellt werden können, dass die verantwortliche Person bei der Entwicklung in dem Bewusstsein handelte, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den hierin zu sehenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahm. Denn die Rechtslage zur Legalität von Thermofenstern sei unsicher – allenfalls rechtfertige dies die Annahme von Fahrlässigkeit (BGH Urt. v. 16.09.2021 – VII ZR 180/20, Rn. 36).
Die Linie des BGH: Keine drittschützende Norm aus Unionsrecht
Ein Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB, für den bereits Fahrlässigkeit genügt, scheiterte. Erforderlich ist hier der Verstoß gegen ein drittschützendes Schutzgesetz, das bedeutet, ein Gesetz, das zumindest auch dazu dienen soll, den oder die Einzelne:n oder einzelne Personenkreise gegen die Verletzung eines bestimmten Rechtsguts zu schützen. Ein solcher Verstoß gegen Unionsrecht lag zwar vor, es fehlte aber die drittschützende Funktion der betroffenen Vorschriften. Zwar bestehen unionsrechtliche Vorgaben, die Abschalteinrichtungen verbieten, diese waren nach Auffassung des BGH aber nicht drittschützend. Der in Rede stehende Art. 5 Abs. 2 EG-Verordnung 715/2007 schütze nicht das wirtschaftliche Selbstbestimmungsrecht der einzelnen Fahrzeugerwerber:innen. Dies gälte auch für die Übereinstimmungserklärung nach Art. 18 EG-Richtlinie 2007/46.
Die Linie des EuGH: Unionsrecht schützt Einzelinteressen des Käufers
Das Landgericht Ravensburg legte die Schadensersatzklage einer Privatperson gegen die Mercedes Benz Group dem EuGH vor. Der entschied grundlegend anders: Neben allgemeinen Rechtsgütern schütze das Unionsrecht auch die Interessen des bzw. der individuellen Käufer:in eines Kraftfahrzeugs gegenüber dem Hersteller. Mit der Übereinstimmungserklärung an den oder die Käufer:in werde bestätigt, dass das Fahrzeug rechtskonform produziert wurde. Diese schützt gerade auch den oder die individuelle:n Käufer:in vor Pflichtverletzungen des Herstellers, auch vor illegalen Abschalteinrichtungen. Die Übereinstimmungserklärung vermittle also Drittschutz, argumentierte der EuGH. Um das Unionsrecht durchzusetzen, müssten die Mitgliedstaaten vorsehen, dass Käufer:innen eines betroffenen Fahrzeugs Anspruch auf Schadensersatz haben.
Unsere Einschätzung
Die EuGH-Entscheidung hat Folgen. Die Auswirkungen der Entscheidung für die deutsche Rechtspraxis sind gravierend. Der BGH verneinte bisher die drittschützende Wirkung und lehnte darum eine Anwendung von § 823 Abs. 2 BGB ab. Diese Bewertung muss nun auf den Prüfstand. Der BGH hat bereits für den 8. Mai eine Verhandlung terminiert, in der die Folgen der EuGH-Entscheidung für das deutsche Haftungsrecht aufgearbeitet werden sollen.
Stellt man statt wie bisher auf § 826 BGB jetzt auf § 823 Abs. 2 BGB ab, so fallen die Anforderungen an einen Schadensersatzanspruch vom Erfordernis vorsätzlich sittenwidriger Schädigung auf Fahrlässigkeit. Und das dürfte deutlich häufiger bejaht werden.
Eine neue Klagewelle ist wahrscheinlich. Es bleibt abzuwarten, wie der BGH die EuGH-Entscheidung in nationales Recht übersetzt. Mangels unionsrechtlicher Schadensvorschriften gilt auch weiterhin im Grundsatz nationales Recht, das sich zwischen den Mitgliedstaaten unterscheiden kann. Nationale Gerichte können den Schadensersatz in einem angemessenen Rahmen halten. Das kann zum Beispiel durch die Anrechnung von Vorteilen aus der bisherigen Nutzung des Fahrzeugs geschehen. Mercedes gibt sich indes gelassen. Ob das nur die Ruhe vor dem Sturm ist?