Die Wesentlichkeitsanalyse als Grundlage der Nachhaltigkeitsberichterstattung
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14. Dezember 2023

Die Wesentlichkeitsanalyse als Grundlage der Nachhaltigkeitsberichterstattung

Ab 2024 gelten die European Sustainability Reporting Standards (ESRS) als Berichtsstandard in der Europäischen Union. Danach wird sich die verpflichtende Nachhaltigkeitsberichterstattung richten. Ausgangspunkt der Berichterstattung ist die Wesentlichkeitsanalyse. Hierdurch sollen die Berichtsinhalte auf relevante Nachhaltigkeitsaspekte reduziert werden. Hier erfahren Sie, wie eine Wesentlichkeitsanalyse abläuft und was Unternehmen beachten müssen und welche Vorteile der Prozess mit sich bringt. 

ESRS: Grundlage der Nachhaltigkeitsberichterstattung

Das ESRS-Standardset ist sehr umfassend. Nicht jeder Aspekt ist für jedes Unternehmen gleichermaßen relevant, da sie in unterschiedliche Wertschöpfungsketten eingebunden sind und nicht dieselben Stakeholder betreffen.

Die Wesentlichkeitsanalyse soll für berichtende Unternehmen und seine Berichtsadressaten die relevanten Themen identifizieren. Darauf wird später der Fokus der Berichterstattung gelegt. Die für die Organisation und ihre Stakeholder wichtigsten Themen aus den Bereichen Umwelt, Soziales und Governance (ESG) werden ermittelt. Nicht zuletzt will der Standardsetter hierdurch erreichen, dass die berichtenden Unternehmen die Prioritäten ihrer Nachhaltigkeitsbemühungen auf die für sie relevanten Themen legen.

Darum ist eine Wesentlichkeitsanalyse der Ausgangspunkt für die Berichterstattung. Sie ist gleichermaßen der Kick-Off für alle die Unternehmen, die sich erstmalig mit dem Thema beschäftigen und einen Bericht aufstellen (müssen).

ESRS: Doppelte Wesentlichkeit – Impact und Financial Materiality

Die CSRD/ESRS führen das Konzept der doppelten Wesentlichkeit in die Nachhaltigkeitsberichterstattung ein. Demnach ist ein Thema dann wesentlich, wenn es entweder aus Impact-Sicht oder aus finanzieller Sicht wesentlich ist – oder beides zutrifft.

Aus Impact-Perspektive ist ein Thema wesentlich, wenn es mit tatsächlichen oder potenziellen erheblichen Auswirkungen auf Menschen oder Umwelt verbunden ist. Diese können kurz-, mittel- oder langfristig und sowohl direkter als auch indirekter Natur sein (Impact Materiality).

Aus finanzieller Sicht ist ein Thema wesentlich, wenn es Risiken und Chance schafft, die

  •   zukünftige Cashflows und damit den Unternehmenswert kurz-, mittel- oder langfristig beeinflussen oder beeinflussen könnten
  •   und dies nicht in der Finanzberichterstattung für die jeweilige Berichtsperiode enthalten ist.

Das bedeutet eine wesentliche Erweiterung der Unternehmensberichterstattung, da zum Beispiel Auswirkungen des Klimawandels potentiell für viele Unternehmen relevant sind, obwohl sie sich in der Regel bislang nicht auf Berichtsperioden auswirken.

ESRS: Wie läuft eine Wesentlichkeitsanalyse ab?

Die Wesentlichkeitsanalyse erfolgt in fünf Schritten.

1. Festlegung des Scopes

Das Unternehmen muss die gesamte Wertschöpfungskette betrachten, deren Teil es ist. Es werden die Stakeholder ermittelt, die von der Geschäftstätigkeit des Unternehmens betroffen sind. Daraus wird eine Strategie entwickelt, wie mit den Stakeholdern ein Dialog geführt werden kann. Hierzu bieten sich einerseits direkte Befragungen an. Andererseits kann auch ein Dialog mit Interessenvertretern aufgenommen werden.

2. Erstellung der Longlist

Auf Basis der Analyse der Wertschöpfungskette erfolgt als zweiter Schritt die Erstellung der Longlist. Die Longlist beinhaltet alle potentiell relevanten ESG-Themen. Sie wird unter Einbezug unternehmensinterner und womöglich auch externer Experten erstellt und enthält auch eine erste Priorisierung der einzelnen Themen.

3. Identifikation der Auswirkungen, Risiken und Chancen

Für die in der Longlist enthaltenen Themen wird in einem dritten Schritt eine Identifikation der Auswirkungen, Risiken und Chancen durchgeführt. Das geschieht üblicherweise im Rahmen moderierter Workshops und Diskussionsrunden. Dabei werden auch die Themen von der Liste entfernt, für die keine Auswirkungen, Risiken oder Chancen ermittelt wurden. Am Ende dieser Phase liegt eine Shortlist an ESG-Themen vor.

4. Wesentlichkeitsbewertung

Für die Themen der Shortlist wird im vierten Schritt eine Wesentlichkeitsbewertung der Auswirkungen, Risiken und Chancen vorgenommen.

Auswirkungen können potenziell oder tatsächlich positiv oder negativ sein.

Bei Risiken und Chancen werden Ausmaß und Eintrittswahrscheinlichkeit bewertet. Wichtig: Die ESRS sehen grundsätzlich eine Bruttoberichterstattung vor. Eine Aufrechnung negativer Auswirkungen mit positiven ist nicht gestattet. Dies gilt in mehrfacher Hinsicht. Auch innerhalb der Wertschöpfungskette darf keine Aufrechnung negativer Auswirkungen an einem Standort mit positiven anderenorts stattfinden. Ebenso dürfen aktuell negative Auswirkungen nicht mit zukünftigen positiven Auswirkungen aufgerechnet werden. 

5. Zusammenstellung wesentlicher Themen

Am Ende steht dann eine Zusammenstellung wesentlicher Themen, die den Ausgangspunkt für die eigentliche Berichterstattung darstellt. Hier erst entscheidet sich dann auch, welche ESRS-Standards für das berichtende Unternehmen einschlägig sind und welche Informationen letztendlich offengelegt werden müssen.

ESRS Wesentlichkeitsanalyse: Jährliche Überprüfung

Die Wesentlichkeitsanalyse ist ein wichtiger erster Schritt in der Nachhaltigkeitsberichterstattung. Aufgrund der Einbindung der Stakeholder entlang der gesamten Wertschöpfungskette ist sie ein umfassendes Projekt.

Gleichzeitig bieten sich den Unternehmen damit auch zahlreiche Chancen für das Risikomanagement und die Weiterentwicklung der unternehmerischen Strategie.

Die ESRS sehen eine jährliche Berichterstattung vor. Das bedeutet nicht, dass die gesamte Wesentlichkeitsanalyse ebenfalls jährlich wiederholt werden muss. Es wird überprüft, ob die Wesentlichkeitsanalyse noch aktuell ist, oder ob sich in der Berichtsperiode Änderungen im Unternehmen oder seinem Umfeld ergeben haben. In diesem Fall wird geprüft, ob die Änderungen zu anderen Einschätzungen innerhalb der Wesentlichkeitsanalyse führen würden. 

Wesentlichkeitsanalyse: Was sind wesentliche Tatsachen oder Ereignisse?

Wir gehen grundsätzlich davon aus, dass die Wesentlichkeitsanalyse der Vorperiode genutzt werden kann, wenn keine wesentlichen Tatsachen oder neuen Ereignisse eingetreten sind.

Diese wesentlichen Tatsachen oder Ereignisse sind denkbar:

  •   Ein großer Unternehmenserwerb, der zu einer neuen Tätigkeit, dem Eintritt in einen neuen Sektor oder einer wesentlichen Änderung der Geschäftstätigkeit führt.
  •   Eine wesentliche Änderung wichtiger Lieferanten oder der Lieferkettenpraktiken.
  •   Ein globales Ereignis, wie eine Pandemie oder das Eingehen einer neuen wesentlichen Geschäftsbeziehung, die wahrscheinlich schwerwiegende Auswirkungen auf die Menschenrechte haben wird.
  •   Eine Verschiebung der sozialen Konventionen, der wissenschaftlichen Erkenntnisse oder der Bedürfnisse der Nutzer, die sich auf die Merkmale des Schweregrades auswirken könnten.

Unsere Einschätzung

Die Durchführung der Wesentlichkeitsanalyse ist ein komplexer Prozess. Sie bietet jedoch viel Handlungs- und Interpretationsspielraum für Unternehmen und zahlt auf das Nachhaltigkeits- und Risikomanagement und nicht zuletzt auf die Unternehmensstrategie ein.

Auch wenn die ESRS keine explizite Verpflichtung zur Durchführung weitreichender Umfragen unter Stakeholdern vorsehen, empfehlen wir den Kreis derjenigen, die in einen Dialogprozess einbezogen werden, weit zu fassen.

Für alle großen Unternehmen, die bislang nicht in den Anwendungsbereich der NFRD gefallen sind: Sie müssen erstmalig für das Jahr 2025 berichten. Sie sollten 2024 für die Wesentlichkeitsanalyse nutzen, um den Berichtsumfang abzustecken.

Grundsätzlich sehen wir in der Wesentlichkeitsanalyse auch Potenzial zur zeitgemäßen strategischen Weiterentwicklung von Unternehmen.

Wenn Sie dabei Unterstützung benötigen, sprechen Sie uns an.

Thilo Marenbach

Partner, Vorstand, Steuerberater, Wirtschaftsprüfer, Sustainability Auditor

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Expert:innen zu diesem Thema

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Tino Wunderlich

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Wilhelm Kollenbroich

Partner, Steuerberater, Zertifizierter Stiftungsberater und –manager (FS), Diplom-Kaufmann (FH)

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