Bundesarbeitsgericht: Anzeigepflicht bei Massenentlassungen
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27. Februar 2024

Bundesarbeitsgericht: Anzeigepflicht bei Massenentlassungen

Kategorien: Rechtsberatung

Der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts (BAG) möchte seine Rechtsprechung zu Fehlern bei Massenentlassungsanzeigen ändern. Diese sollen zukünftig nicht mehr zur Unwirksamkeit der Kündigung führen. Erfahren Sie hier, wie es zu dem Wandel kommt und welche Konsequenzen das hat.

Anzeigepflicht bei Massenentlassungen: Bisherige Rechtsprechung

Bisher nahm das BAG in seiner Rechtsprechung an, dass Verstöße gegen die Pflichten von Arbeitgeber:innen im Zusammenhang mit Massenentlassungen zur Nichtigkeit der Kündigung gemäß § 134 BGB führen. Dazu zählt auch die Anzeigepflicht gem. § 17 Abs. 1, 3 Kündigungsschutzgesetz (KSchG).

In der Folge waren Kündigungen ohne eine Anzeige nichtig. Diese Auffassung vertrat das BAG seit einem Urteil des Zweiten Senats aus 2012 (BAG-Urteil vom 22.11.2012 – Az. 2 AZR 371/11).

Anzeigepflicht bei Massenentlassungen: Neue Rechtsprechung des Sechsten Senats

Der Sechste Senat hat es mit gleich mehreren Formverstößen gegen § 17 KSchG zu tun.

  •   In einem Verfahren unterblieb die Massenentlassungsanzeige sogar ganz, da der Insolvenzschuldner die nach § 17 Abs. 1 KSchG maßgebliche Betriebsgröße als nicht erreicht ansah (6 AZR 157/22).
  •   In einem anderen Fall wurde zwar das Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat durchgeführt, dafür jedoch keine Abschrift davon an die zuständige Agentur für Arbeit übermittelt (6 AZR 155/21).
  •   In einem dritten Verfahren genügte die getätigte Massenentlassungsanzeige nicht den hieran gestellten Anforderungen, auch war das Konsultationsverfahren noch nicht abgeschlossen (6 AZR 121/22).

Alle anhängigen Verfahren sind derzeit ausgesetzt, da dem Sechsten Senat Zweifel kamen, ob die Folgen des Urteils des Zweiten Senats aus 2012 möglicherweise unverhältnismäßig seien und gegen die Systematik des Massenentlassungsschutzes aus der Massenentlassungsrichtlinie 98/59/EG verstoßen könnten.

Anzeigepflicht bei Massenentlassungen: So entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH)

Darum hat der Sechste Senat des BAG den EuGH angerufen (6 AZR 155/21), um eine zentrale Frage beantwortet zu bekommen: Welchen Zweck hat die Übermittlungspflicht nach Art. 2 Abs. 3 Unterabsatz 2 MERL, die § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG umsetzt.

Davon hängt ab, ob § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG als den Arbeitnehmerschutz bezweckende Vorschrift als Verbotsgesetz gem. § 134 BGB anzusehen ist. Schließlich wäre die Kündigung nur in diesem Fall unwirksam.

Der EuGH hat in seinem Urteil (Urteil vom 13.07.2023 – Az. C-134/22) entschieden, dass die Übermittlungspflicht nicht den Sinn habe, den von Massenentlassungen betroffenen Arbeitnehmer:innen Individualschutz zu gewähren. Die Übermittlung diene lediglich Informations- und Vorbereitungszwecken, damit Behörden nach entsprechenden Lösungen für die dadurch entstehenden Probleme suchen können. Das Urteil des EuGH finden Sie hier aufbereitet.

Anzeigepflicht bei Massenentlassungen: Wie geht es nun weiter?

In einer Pressemitteilung hat der Sechste Senat nun eine Änderung der Rechtsprechung angekündigt. Diese soll sich auf Fehler im Massenentlassungsverfahren gem. § 17 Abs. 1, 3 KSchG beschränken. Entscheidend wird auch sein, ob sich der Zweite Senat dieser Änderung anschließt oder an seinem bisherigen Standpunkt festhält.

Sollte der Zweite Senat sich der Änderung nicht anschließen, muss der große Senat entscheiden. Ob dieser geplante Kurswechsel auch Relevanz für andere Fehler im Massenentlassungsverfahren entfaltet, bleibt allerdings ungeklärt.

Unsere Einschätzung

Wir begrüßen den angestrebten Kurswechsel des BAG. Sollte sich der Zweite Senat der Rechtsprechungsänderung anschließen, würden sich die Rechtsrisiken bei der Durchführung von Massenentlassungen für Arbeitgeber:innen signifikant reduzieren.

Bisher ist die Anzeige einer Massenentlassung für Unternehmen an hohe formale Anforderungen und massive Rechtsrisiken geknüpft. Auch war von dem ursprünglichen arbeitsrechtlichen Gedanken der §§ 17 ff. KSchG nicht mehr viel zu spüren, da dieser vorsah, dass Informationen frühzeitig geteilt und so weitere Maßnahmen eingeleitet werden konnten.

Vielmehr kassierten Gerichte wegen Fehlern im Massenentlassungsverfahren zahlreiche Kündigungen auf Kosten der Unternehmen. Das könnte sich bald ändern. Nach wie vor ist ein formal sorgfältiges und rechtssicheres Vorgehen geboten. Dabei unterstützen wir Sie gerne.

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